V. Plata-Stenger: Social Reform, Modernization and Technical Diplomacy

Cover
Titel
Social Reform, Modernization and Technical Diplomacy. The ILO Contribution to Development (1930–1946)


Autor(en)
Plata-Stenger, Véronique
Reihe
Work in Global and Historical Perspective (8)
Erschienen
Berlin 2020: De Gruyter Oldenbourg
Anzahl Seiten
332 S.
Preis
€ 86,95
von
Christian Gerlach

Véronique Plata-Stenger hat einen substanziellen Beitrag zur Geschichte internationaler Organisationen vorgelegt, der allerdings auch einige Probleme dieses Genres widerspiegelt.

Die Autorin beschäftigt sich mit der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) bis 1946 mit Schwerpunkt auf den 1930er Jahren. Thematisch stehen Verbindungen der ILO mit verschiedenen Weltregionen im Mittelpunkt, vor allem Lateinamerika, aber auch Osteuropa und Asien. Anders als in Daniel Mauls Studie zur ILO von 2007 geht es also vorwiegend um Beziehungen zu souveränen Staaten.

Das Buch basiert auf einer breiten Quellengrundlage. Die Autorin schöpft aus zwölf Archiven, und die Bibliografie umfasst 26 Seiten. Die empirisch reichhaltige und analytisch versierte Studie weist viele aussagekräftige Zitate auf. Im Zentrum steht das Schrifttum der ILO. Nachlässe mancher ILO-Mitarbeitender und einzelne Seitenblicke aus den USA ergänzen die Quellengrundlage der Studie.

Die ILO konzentrierte sich in ihrer antikommunistischen und (angeblich) antifaschistischen Sozialreformpolitik auf die Festlegung allgemeingültiger Standards und das Beeinflussen neuer Arbeitsgesetzgebung in Mitgliedsländern. Letzteres geschah mittels technischer Hilfe durch die Entsendung von Experten in sog. «country missions». Die ILO habe ein «social engineering» angestrebt, indem west- und mitteleuropäische Modelle in andere Weltregionen («peripheries», S. 7) ohne regionale Modifikation transplantiert wurden. Daher brauchten die entsandten Beamten kein Regionalwissen, das sie meist auch ebenso wenig besassen wie relevante Sprachkenntnisse.

Das Buch sagt auch viel über wirtschaftswissenschaftliche Ideen in den 1930er Jahren, namentlich den Versuch, in der Weltwirtschaftskrise Bemühungen um soziale Sicherheit mit wirtschaftlicher Rationalisierung zu verbinden und Planungselemente in den Kapitalismus einzubringen. Zukunftsweisend seien auch Überlegungen über Lebensstandards gewesen, die zur Einführung von Mindestlöhnen in etlichen Ländern führten.

Plata-Stenger zeigt, dass die ILO im Zweiten Weltkrieg zum Instrument der USA für die kriegswirtschaftliche Mobilisierung in Lateinamerika geriet, bei den Gründungskonferenzen der UN-Organisationen aber marginalisiert wurde (S. 252–283). Welchen Grossmachtinteressen die ILO bis 1939 diente, kommt hingegen kaum konkret zur Sprache.

Im stärksten Kapitel des Buches analysiert die Autorin die Hintergründe der auf Ländermissionen geschickten Funktionäre (S. 155–188). Wie das Gros der ILO-Beschäftigten waren sie meist Europäer, männlich, mit Kriegs- und Verwaltungserfahrung und traten jung in den Dienst internationaler Organisationen ein. Die meisten hatten studiert, allerdings nur wenige Jura, etliche dagegen Sozial- oder Geisteswissenschaften. Die Analyse einiger Ländermissionen in Venezuela zeigt, dass sich diese Männer, teilweise eher Nichtexperten, ignorant teils durch ihre Verhandlungen mit Regierungsvertretern blufften und auch für ihre Organisation kaum Expertenwissen zurückbrachten bzw. ansammelten, da Länderwissen gar nicht zählte.

In der Geschichte internationaler Organisationen gibt es gewisse Muster. Meist beruhen solche Studien auf den Akten der Organisation selbst. Sie geben also eine Innenperspektive wieder, in der Regel aus der Sicht von Eliten (Politikern oder hochgestellten Bürokraten), mit starkem Augenmerk auf Ideengeschichte und organisatorischen Struk-turen und mässig spannend. Oft sind es affirmative Studien ohne breiteren Bezugsrahmen. In ihnen sind internationale bzw. transnationale Verflechtung und ‹Entwicklung› etwas Gutes, die thematisierte Organisation erscheint daher und auf Basis von deren eigenen Akten als wichtig, und die Darstellungen sind infolgedessen allenfalls halb-kritisch.

Mit ihrer Erweiterung der Perspektive auf den biografischen Hintergrund etlicher Akteure sowie auf den Ablauf technischer Hilfe bringt Plata-Stenger wichtige innovative Elemente ein. Doch auch ihre Darstellung – deren Übersetzung von der ILO finanziell gefördert wurde – ist im Grunde affirmativ, wie schon ihr Untertitel nahelegt. So waren ILO-Regionalkonferenzen ein «ideal forum» zur Besprechung lateinamerikanischer Probleme (S. 89), die ILO «[was] seeking to export social progress to Asia» (S. 17), und der erste ILO-Direktor Albert Thomas wird idealisiert (S. 164). Obwohl die Autorin Rassismus und pro-kolonialistische Haltungen in der ILO betont, habe diese ein «democratic model» der Sozialreform verfolgt (S. 30; vgl. auch S. 288).

Auch wäre zu fragen, ob die ILO denn wirklich einen grossen Einfluss und damit grosse Relevanz hatte. Warum sollte man ihre Ländermissionen so ausführlich behandeln, wenn sie doch bis 1946 «marginal» für die Tätigkeit der ILO blieben (S. 160, vgl. zum Beispiel 117–121)? Selbst wenn man argumentiert, dass solche Missionen in der späteren Entwicklungspolitik öfter organisiert wurden (S. 284) – ich bezweifle, dass sie einen grossen Einfluss auf die Politik in Zielländern oder auch von UN-Organisationen hatten – materialisierten sich in mehreren Fällen die von der Autorin eingehend beschriebenen Projekte für Gesetze oder Konferenzen nicht oder sehr spät (S. 100, 242), Konventionen wurden nicht umgesetzt (S. 114) oder der reale Einfluss der ILO erweist sich als marginal (nochmals S. 117–121), wobei die Auswirkungen sozialer Reformmassnahmen gar nicht Untersuchungsgegenstand sind (S. 14).

Kleinere Schwächen seien am Rande vermerkt. Plata-Stengers Buch ist eine Übersetzung ihrer französischsprachigen Genfer Dissertation, die manch sprachliche Unebenheit und einige unklare Passagen enthält (S. 2, 7, 11, 79). Das Buch weist redaktionelle Mängel auf und springt manchmal thematisch hin und her. Auf die im Band enthaltenen Abbildungen, meist Gruppenbilder, nimmt der Text keinen Bezug. Véronique Plata-Stengers kluge und empirisch gesättigte Studie verdient dennoch Aufmerksamkeit, denn sie liefert eine Reihe neuer Erkenntnisse über eine internationale Organisation der Zwischenkriegszeit.

Zitierweise:
Gerlach, Christian: Rezension zu: Plata-Stenger, Véronique: Social Reform, Modernization and Technical Diplomacy. The ILO Contribution to Development (1930–1946), Berlin / Boston 2020. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 72(3), 2022, S. 478-479. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00114>.